Chino

Kontinuierlich individuell

Ich habe ein neues Wort für meine Sammlung „unpräzise Zeitausdrücke“ gefunden. Das Wort lautet „kontinuierlich\“. Natürlich kenne ich das Wort, nur ist mir kürzlich erst bewusst geworden, wie unpräzise es ist. Bislang war „kurz“ der Topfavorit in meinem eigenen Wortranking für Schwamm-Wörter. Das Wort „kurz“ reicht von wenigen Sekunden, z.B. bei „ich zieh mir kurz eine Jacke über“, bis hin zu mehr als einer Stunde „ich gehe kurz einkaufen“. Denn wie kurz oder lang mein Einkauf im 400 Meter entfernten Supermarkt meines Vertrauens dauert, hängt nicht mit der Anzahl der zu kaufenden Lebensmittel zusammen, sondern damit, wieviel Bekannte ich treffe.

Ich habe letzte Woche mit einer Gruppe von Führungskräften ein Online-Sprach-Training zum Thema „wertschätzend Feedback geben“ gemacht. Es ging darum, einen Arbeitsauftrag zu geben. Eine Teilnehmerin formulierte den Satz: „Die Liste muss kontinuierlich gepflegt werden.“  Tja, und da war die Frage: Wie oft ist kontinuierlich? Jeden Tag, immer freitags, einmal im Monat, immer wenn etwas Neues passiert oder einmal im Jahr vor dem 31.12.? Das liegt doch ganz im Auge des Betrachters, ist also individuell sehr verschieden. Und hier liegt der Grund für viel Ärger und Enttäuschung. Dabei haben eine Chefin und ein Mitarbeiter lediglich ein unterschiedliches Gefühl für ein Wort wie „kontinuierlich“.

Beim Blick in mein Herkunftswörterbuch lese ich, dass „kontinuierlich“ \“stetig, fortdauernd, unaufhörlich\“ bedeutet. Es ist das Adjektiv vom heute veralteten Verb „kontinuieren“, das vom französischen „continuer“ abgleitet ist und das bezieht sich wiederum auf das lateinische „continuare“. „Continuare heißt „zusammenhängend machen“. Seinerseits ist das wieder eine Zusammensetzung aus „con“, das „mit“ heißt und „tenere“, was „halten“ heißt.

Was mich wirklich überrascht ist, dass ein so dehnbares Wort wie „kontinuierlich“ Namensgeber eines Grundprinzips im Qualitätsmanagement ist und sogar eine eigene ISO hat. ISO ist eine Norm in der Industrie, so wie auch DIN eine Norm ist. Bei der ISO 9001 geht es um den kontinuierlichen Verbesserungsprozess, der eine stetige Verbesserung in kleinen Schritten im Rahmen von Teamarbeit vorsieht.

Nur es braucht eine klare Definition von diesem „stetig“. Das bringt mich wieder zur Sprache und ihrer Anwendung. Nur wenn ich klar sage, wie oft bei mir kontinuierlich ist, kann ich erwarten, dass andere sich danach richten. Präzises Denken und Sprechen erleichtern das miteinander Arbeiten und Leben.

Im Übrigen habe ich das heutige Foto zum Blog bewusst gewählt. Es zeigt unseren Kater „Chino“, der ein tiefes Verständnis von einem „kontinuierlichem Erholungsprozess“ hat. Da kann ich lernen.

1 Kommentar zu „Kontinuierlich individuell“

  1. Es ist immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich Zeitausdrücke verstanden werden. Ich habe mich viele Jahre mit Automatisierungsnetzwerken befasst. Ein Schlüsselbegriff dabei ist „Echtzeit“. Man möchte nicht glauben, wie flexibel dieser Begriff ist. Je nach Definition ist Echtzeit eine Spanne von einigen Mikrosekunden bis etwa 100 Millisekunden, also ein Unterschied um den Faktor 100.
    Das Leben war sicher einfacher, als die genauesten Zeitangaben noch Morgens, Mittags und Abends waren 🙂

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